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KEIN VERGESSEN.

TODESOPFER RECHTER GEWALT IN M-V

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Anerkennung überfällig

Seit 1990 wurden in Deutschland laut Aussage der Behörden 113 Menschen durch rechte Gewalt getötet. Unabhängige Recherchen von Journalist:innen von Tagesspiegel, Frankfurter Rundschau und der ZEIT haben aufgezeigt, dass die staatlichen Angaben unzureichend sind und viele Fälle nicht erfassen. Ihre Untersuchungen zählen für den selben Zeitraum mindestens 187 in Folge rechter Gewalt gestorbener oder aus rechten Motiven getöteter Menschen in der Bundesrepublik. Die Amadeu-Antonio-Stiftung geht sogar von 219 Menschen aus. Diese offenkundige Differenz zwischen unabhängigen und staatlichen Zahlen ist immer wieder Thema öffentlicher Auseinandersetzungen. Spätestens mit der Selbstenttarnung des sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrundes“ (NSU) 2011 wurden Lücken in der staatlichen Betrachtung und Bewertung von rechter Gewalt aufgedeckt. Der erste parlamentarische Untersuchungsausschuss des Bundestags zum NSU gab daher an die Bundesländer die dringende Empfehlung, vergangene Tötungsdelikte noch einmal hinsichtlich eines rechten Motivs zu prüfen. Während viele Bundesländer die Überprüfung behördenintern abwickelten, gaben Berlin, Brandenburg und Thüringen diese in die Hände unabhängiger wissenschaftlicher Gremien. Dieser Text soll einen kurzen Abriss über die Debatte um Anerkennung von Todesopfern rechter Gewalt bieten, die Schwachstellen der staatlichen Erfassungskriterien umreißen sowie das im Rahmen diesen Projektes entwickelte Kategorienschema erläutern.

Das polizeiliche Erfassungssystem für politisch motivierte Kriminalität

Die Strafverfolgungsbehörden erfassen rechte Gewalt mit den Mitteln des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes für Fälle politische motivierter Kriminalität (KPMD-PMK). Dieses umfasste bis zum Jahr 2001 nur Delikte, die gegen den Staat und die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtet waren. Erst auf zivilgesellschaftlichen Druck in Folge der zunehmenden rechten Gewalt im Verlauf der Neunziger wurden die PMK-Kriterien soweit angepasst, dass auch rechts motivierte Gewalttaten gegen Personen wegen ihrer angenommenen Herkunft, Religion oder sexuellen Orientierung oder dem ihr zugeschriebenen sozialen Status mit erfasst werden konnten. Als zentrales Bewertungskriterium gilt den Behörden dabei die Motivation der Täter:innen. Diese müsse ein erkennbar tatauslösendes Moment haben und lässt sich nicht aus der reinen Begehung der Tat ableiten.
Auch nach dieser zentralen Überarbeitung war das staatliche Erfassungssystem immer wieder Kritik ausgesetzt. Zivilgesellschaftliche Akteur:innen und Opferberatungsstellen wendeten ein, dass sich die Kriterien an einem Täter:innentyp orientieren, der sich selbst als politisches Individuum begreift und seine Taten auch bewusst als politische Handlung versteht. In der Realität würden Täter:innen jedoch selten Aussagen zu ihrer Tatmotivation machen oder ihre Taten in Nachhinein zum Selbstschutz entpolitisieren, um einer härteren Bestrafung vor Gericht zu entgehen. Der Nachweis des tatauslösenden Moments ist somit in vielen Fällen schwer zu erbringen, sofern nicht unmittelbar in der Tatbegehungen Aussagen der Täter:innen bezeugt werden können. Die Perspektiven von Betroffenen spielten für die polizeiliche Bewertung einer Tat lange Zeit keine Rolle. Sie ist erst seit einer weiteren Novellierung 2017 Teil der Bewertungskriterien.
Die Prüfung einer Tat anhand der PMK-Kriterien obliegt den ermittelnden Beamt:innen der lokalen Polizeibehörden. Diese sind jedoch nicht zwangsläufig auf die Wirkmechanismen rechter Gewalt geschult, bzw. besitzen nicht die notwendige Sensibilität, um anhand der ihnen vorliegenden Indizien eine Bewertung vorzunehmen. Das System macht sich an dieser Stelle anfällig für Fehler, da es keine Wahrscheinlichkeitsmethodik enthält. Eine Tat wird entweder als PMK bewertet, oder sie wird es nicht. Ist diese Einordnung erst mal getroffen, wird sie selten im Nachhinein korrigiert – auch wenn weitere Ermittlungsergebnisse oder Gerichte in der Verhandlung eine politische Komponente der Tat herausarbeiten, die im Rahmen der ersten polizeilichen Ermittlung nicht gesehen wurde.

Bundesweite Neuüberprüfung von Tötungsdelikten

Besonders offenkundig wurden die Defizite der behördlichen Erfassung nach der Selbstenttarnung des sogenannten NSU im November 2011. In der anschließenden Aufarbeitung wurde schnell klar, dass der Staat und seine Polizeibehörden nicht in der Lage waren eine mindestens zwölf Jahre dauernde Serie von Morden, Anschlägen und Raubüberfällen und die ihr zugrundeliegende politische Motivation zu erkennen. Stattdessen wurden die Opfer von der Polizei bezichtigt, selbst in kriminelle Geschäfte verwickelt gewesen zu sein. Sie versuchte damit einen Erklärungsansatz für die Mordserie zu konstruieren. Nachdem die Taten des NSU bekannt wurden, gab der Untersuchungsausschuss des Bundestages den Ländern die Empfehlung, vergangene Tötungsdelikte u.a. anhand von Opfermerkmalen auf eine mögliche rechte Tatmotivation zu überprüfen. Beinahe alle Länder gaben dies an ihre jeweiligen Kompetenzbehörden – die Landespolizeien – weiter. Nur Berlin und Brandenburg ließen ihre Fälle von unabhängigen wissenschaftlichen Einrichtungen prüfen. In Thüringen wurde die Beauftragung einer solchen unabhängigen wissenschaftlichen Überprüfung 2018 vom Landtag beschlossen, jedoch noch nicht umgesetzt. Während also beinahe alle Bundesländer für die Neuüberprüfung jene Kriterien des KPMD-PMK heranzogen, die sich bereits in der Vergangenheit als fehleranfällig bewiesen haben und die Behörden sich mit einer Neubewertung eigene Ungenauigkeiten in der Vergangenheit eingestanden hätten, konnten die Wissenschaftler:innen eine kritische Distanz zu den behördlichen Klassifikationen wahren. Die polizeilichen PMK-Kriterien wurden somit selbst zum Untersuchungsgegenstand. Die Wissenschaftler:innen des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU Berlin wiesen sie für die Bewertung der Berliner Tötungsdelikte als unzureichend für die Erfassung rechter Gewalt zurück und ergänzten sie im Rahmen ihrer Untersuchung um eigene Bewertungskriterien12018 – Feldmann, Kohlstruck et al – Klassifikation politisch rechter Tötungsdelikte – Berlin 1990 bis 2008Kategorien dieser Untersuchung

Seit 1990 sind nur Dragomir Christinel, Norbert Plath, Eckhard Rütz, Mehmet Turgut und Karl-Heinz Lieckfeldt offiziell von den Behörden als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt. Für die Untersuchung im Rahmen dieses Projekts wurden darüber hinaus 24 weitere Fälle mit 25 verstorbenen Personen betrachtet, bei denen verschiedene Faktoren unterschiedlich stark auf eine rechte Tatmotivation hindeuten. Die Nachweisbarkeit über die tatauslösende oder tatbefördernde Wirkung dieser Faktoren unterscheidet sich von Fall zu Fall. Um dies darstellbar zu machen, wurden aus der Grundgesamtheit der untersuchten Fälle induktiv die Merkmale für drei Kategorien abgeleitet:

Todesopfer rechter Gewalt

Ein Tötungsdelikt, das von staatlicher Seite als politisch rechts motiviert anerkannt ist ODER bei dem unabhängige Recherchen und/oder die Bewertung von Ermittlungs- und/oder Gerichtsakten eindeutige Anhaltspunkte für eine politisch rechte Motivation sprechen.
Bewertungskriterien sind dabei Aussagen ODER Organisierung der Täter:innen ODER die Auswahl des/der Opfer aufgrund bestimmter Merkmale wie Hautfarbe, angenommene Herkunft, sozialer Status, angenommene sexuelle Orientierung, Vorliegen von Beeinträchtigungen, eine angenommene politische Gegnerschaft oder andere spezifisch rechte Abwertungstendenzen.
In diese Kategorie fallen 15 Fälle.

Verdachtsfälle

Ein Tötungsdelikt, bei dem ein rechtes Tatmotiv nicht ausgeschlossen werden kann UND die Umstände der Tat anhand der oben genannten Kriterien einen begründeten Verdacht auf das Vorliegen eines rechten Tatmotivs zulassen.
In diese Kategorie fallen drei Fälle (mit vier Opfern).

Ungeklärte Fälle

Ein Tötungsdelikt ist anzunehmen, es wurden jedoch keine Täter:innen ermittelt. Ein rechtes Tatmotiv kann nicht ausgeschlossen werden, da die Umstände der Tat anhand der oben beschriebenen Kriterien einen Verdacht zulassen und dieser aus dem Umfeld der Verstorbenen geäußert wurde.
Unter diese Kategorie fallen vier Fälle.

Sieben untersuchte Fälle lassen sich keiner der genannten Kategorien zuordnen, da nach intensiver Betrachtung die Merkmale nicht erfüllt werden oder schlicht zu wenig Informationen für eine Bewertung vorliegen. Sie werden daher im Rahmen des Projekts vorerst nicht vorgestellt.
Vier Fälle werden dargestellt, obwohl keine Täter:innen ermittelt wurden und teilweise nie offiziell ein Tötungsdelikt bestätigt wurde. Jedoch gibt es in allen Fällen für das familiäre oder freundschaftliche Umfeld der Getöteten begründete Anhaltspunkte, die eine rechte Tat möglich erscheinen lassen. Für Angehörige und Freund:innen sind diese fragen noch immer offen, deshalb sollen diese Taten und die getöteten Menschen nicht vergessen werden.

Die Forderung nach Anerkennung

Da politisch motivierte Taten oftmals Botschaftstaten sind, besteht in vielen Fällen keine offenkundige Beziehung zwischen den Täter:innen und den Betroffenen. Diese Taten sind für das Umfeld der Betroffenen daher oftmals schwer rational zu erklären. Die offenen Fragen sind meist quälend und die Anforderung an die Aufklärung der Behörden sehr hoch:

„Der Aufklärungswille des Staates ist für viele Überlebende und Hinterbliebene zentral. Das schließt auch die Frage nach den Motiven mit ein. Die Getöteten gehören oft zu gesellschaftlich marginalisierten Gruppen, deren Alltag von Abwertungserfahrungen geprägt ist. Diese Dynamik setzt sich mit der staatlich verweigerten Anerkennung über ihren Tod hinaus fort. In vielen Fällen wird das politische Motiv kaum wahrgenommen, stattdessen bestimmen entpolitisierende Erklärungsansätze die öffentliche Debatte. Als ob die Opfer es nicht wert seien, dass die Wahrheit zu den Todesumständen aufgeklärt wird. Dies erzeugt Ohnmacht, Enttäuschung und Wut. Zudem deutet die Unfähigkeit, solche Tötungsdelikte als rechtsmotiviert zu erkennen, auf die Unfähigkeit oder den Unwillen der Behörden hin, die tatsächliche Gefährlichkeit der Täter*innen und der tödlichen Gefahr extrem rechter Ideologie für Betroffenengruppen wahrzunehmen. Wie soll der Staat mögliche Betroffene schützen, wenn er die Gefahr von rechts nicht erkennen kann oder will? Dies macht die Dimensionen der Debatte deutlich: Für Marginalisierte und politische Gegner*innen ist der Kampf um Anerkennung potentiell ein Kampf um Leben und Tod. Staatlichen Behörden geht es zunächst um die Legitimität und Vertrauensbasis ihrer Bewertungen.

Es wäre aber falsch, das Ringen um Anerkennung als lediglich auf den Staat gerichtet zu fassen. Für Initiativen, Hinterbliebene und Überlebende geht es auch darum, einen Raum der Erinnerung zu schaffen, gesellschaftliche Debatten anzustoßen und ein lokales Gedenken anzuregen, um vor Ort ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass von Rechten, egal ob organisiert oder nicht, eine Gefahr ausgeht. Eine Gefahr, die nicht abstrakt ist, sondern Nachbar*innen, Arbeitskolleg*innen und Freund*innen treffen kann und trifft.“n2Porath/Fröschner 2021

Dieses Projekt versteht sich als ein Beitrag für eine erneute Auseinandersetzung mit den dargestellten Fällen als rechtsmotivierten Taten, mit den Biographien der getöteten Menschen und dem ihnen zugeschrieben Platz in unserem sozialen Gefüge. Es richtet sich somit gleichermaßen an Politik, Behörden und (Zivil-)Gesellschaft mit der Forderung, jene Menschen und ihre Geschichten nicht zu vergessen und ihrer angemessen zu gedenken.

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