header.php
single.php

KEIN VERGESSEN.

TODESOPFER RECHTER GEWALT IN M-V

template-parts/content.php

Die rechte Szene in M-V – Wurzeln, Kontinuitäten, Hegemonien

Mindestens 15 Menschen wurden in Mecklenburg-Vorpommern seit 1990 aus rechten Motiven getötet, viele weitere wurden von rechten Schläger:innen schwer verletzt und bleiben ihr Leben lang traumatisiert oder werden durch körperliche Wunden an die brutale Gewalt erinnert.
Elf der tödlichen rechten Attacken fanden zwischen 1996 und 2002 statt, neun der Tatorte liegen im heutigen Vorpommern-Greifswald. Die Täter:innen waren zur Tatzeit zwischen 14 und 24 Jahren alt. Der zeitliche und auch der geografische Schwerpunkt tödlicher rechter Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern ist kein Zufall, sondern mit der Geschichte der rechten Szene im Bundesland und dem lange Jahre herrschenden politischen Klima zu erklären. So ist etwa noch heute der Osten Mecklenburg-Vorpommerns ein Schwerpunkt rechter Organisierung und Hegemonieräume. Die etablierten Strukturen sind seit mehr als zwei Jahrzehnten gefestigt – ihre Protagonist:innen heute zwischen Mitte 30 und Mitte 40 Jahre alt. Sie waren damals also Jugendliche oder junge Erwachsene. Sie gründeten oder waren Mitglieder in den Strukturen, die den „Kampf um die Straße“ und den „Kampf um die Köpfe“ führten, von dem in einem Strategiepapier der NPD von 1997 die Rede ist. Sie erzeugten das Klima, in dem die mörderischen Taten stattfinden konnten, solange sie nicht sogar selbst Täter:innen waren.

Verlorene Generation?

Die ideologischen Wurzeln der brutalen Gewalt seit der sogenannten Wende lassen sich historisch weit zurückführen. Sei es der mindestens im Nationalsozialismus verwurzelte Sozialdarwinismus oder der in der DDR zwar geleugnete, aber deshalb nicht weniger gewalttätige Rassismus vor 1989. Doch erst mit dem Systemwechsel brach sich in Mecklenburg-Vorpommern in der Gleichzeitigkeit nationalistischen Taumels und transformationsgesellschaftlicher Abstiegsängste eine menschenverachtende Gewalt in einem ganz neuen Ausmaß Bahn. Angefeuert von rassistischer und neonazistischer Agitation beginnt schon in den ersten Tagen des neu entstandenen Bundeslandes eine Welle rassistischer Anschläge und Übergriffe. Noch in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 zogen an vielen anderen Orten (zumeist) Jugendliche auf, brüllten rassistische und nationalistische Parolen – bevorzugt vor Wohnheimen von Vertragsarbeiter:innen.
Der Mord an Dragomir Cristinel im März 1992 ist das erste auf dieser Webseite erfasste rechte Tötungsverbrechen und sogleich eingebettet in eine Zeit hemmungsloser, teils vermeintlich zielloser, aber vor allem häufig unwidersprochener Gewalt. An ihm wird auch das Selbstbewusstsein und Eskalationspotenzial örtlicher, zumindest rechtsoffener Jugendszenen besonders deutlich. Eine vermeintliche Provokation wird binnen 24 Stunden mit einem massiven Gewaltexzess »bestraft«. Die Gesellschaft reagiert auf solche Taten kaum oder verharmlost sie. Das Bild der »orientierungslosen Jugendlichen« macht schnell die Rund und ist die vermeintliche Erklärung für die um sich greifende hemmungslose Gewalt von rechts.
Doch vor allem die Pogrome von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen sind es, die sinnbildlich für das Versagen von Gesellschaft und politischen Verantwortungsträger:innen im Umgang mit rechter und rassistischer Gewalt stehen. Besonders die Ausschreitungen am Sonnenblumenhaus stehen für rechte Selbstermächtigung in den frühen 90er Jahren und prägen eine ganze Generation von Neonazis. Hier erfahren sie, dass sich Gewalt auszahlt. Jeder Flaschen- und Steinwurf wird von Umherstehenden bejubelt. Tagelang sehen sie sich in der herbeigesehnten Rolle der »Vollstrecker des Volkswillens«. Die Evakuierung der Betroffenen des Pogroms aus dem Stadtteil und die wenige Monate später folgende massive Einschränkung des Asylrechts erleben sie ebenso als Erfolg ihrer Angriffe. Mit juristischen Konsequenzen müssen die wenigsten von ihnen rechnen und wenn es doch zu Prozessen kommt, sind die Strafen in der Regel lächerlich gering oder die Verfahren finden erst Jahre später statt.
Dieses Erleben von Straflosigkeit, Unterstützung aus der Bevölkerung und politischer Kapitulation verleiht der rechten Szene in Mecklenburg-Vorpommern ein ganz neues Selbstbewusstsein und einen enormen Schub. Überall im Bundesland sind rechte Schlägercliquen im Straßenbild präsent. In vielen Regionen dominieren sie das Geschehen und schüchterten ganze Ortschaften ein. In den folgenden Jahren werden im gesamten Bundesland Asylsuchende, ehemalige Vertragsarbeiter:innen und People of Colour gejagt, attackiert und vertrieben. Unterkünfte oder geplante Unterkünfte werden angegriffen, Brandanschläge sind an der Tagesordnung. Nicht-rechte Jugendliche riskieren durch ihr bloßes Auftreten ihre Gesundheit, ja ihr Leben. Wie alle anderen Betroffenen sind sie weitestgehend auf sich alleine gestellt. Auf Schutz oder gar gesellschaftliche Unterstützung können sie nicht setzen. Oft ist das erkämpfen eigener Schutz- und Freiräume der einzige Weg.
Ganz anders der Umgang mit den rechten Täter:innen und ihrem Umfeld, die sich immer mehr organisieren. Sie kommen in den Genuss der »akzeptierenden Jugendarbeit«. In völliger Verkennung der Realität, in der sie vielerorts längst die Jugendkultur dominieren, werden sie von der Sozialarbeit zu ausgegrenzten Jugendlichen erklärt, den niedrigschwellige Angebote gemacht werden müssen. Doch anstatt sie »aufzufangen« und »von der Straße zu holen«, werden staatlich finanzierte Entfaltungsmöglichkeiten für eine rechte Subkultur geboten. Nationalsozialistische Ideologie ist in vielen Jugendclubs Alltag und wird von immer mehr Jugendlichen als scheinbar normal und selbstverständlich erlebt, während rechte Gewalt in den Medien weiterhin als »Jugendproblem« verklärt wird.

Die Schläger von Sassnitz oder Ahlbeck beispielsweise, die Horst Genz und Norbert Plath töteten, waren Teil dieser Jugend und Besucher:innen solcher Jugendtreffs. Noch bis ins Jahr 2005 setzte das Land Mecklenburg-Vorpommern auf das Konzept »Kritische Integration statt Ausgrenzung« um »zumindest das öffentliche Herumlungern Rechter zu reduzieren«. Erarbeitet wurde es von der Arbeitsgruppe Extremismus des Landes, bestehend aus den Präventionsräten, der Landeszentrale für politische Bildung und dem Verfassungsschutz.
Diese mussten erhebliche Kritik für dieses Konzept einstecken, da es das Bestärken rechtsradikaler Strukturen gerade im ländlichen Raum ermöglichte. In der Auswertung des Konzeptes fünf Jahre später mussten sie feststellen: »rechtsextremistische Gruppierungen [scheinen] gerade in ländlichen Räumen auf eine gesteigerte Akzeptanz zu stoßen.«. Die vorher subkulturell orientierten Skinheads hatten mittlerweile Kameradschaftsstrukturen etabliert, ihre politische Arbeit verstärkt und waren landesweit vernetzt.

Vom Freundeskreis zur Kaderschmiede

Das politische Ausnutzen der Freiräume durch das Quasi-Gewähren von Immunität und das zur Verfügungstellen von Treffpunkten war irgendwann mehr als ein logischer Schluss, sondern blanke Strategie. Im Konzept zur Errichtung sogenannter »National Befreiter Zonen« wird der Aufbau kontinuierlicher, vor Ort verankerter, rechter Strukturen beschrieben. Strukturen, die das Klima der Angst aufrechterhalten und die Ideologien hinter den Gewalttaten kontinuierlich agitieren.
»Wir müssen Freiräume schaffen, in denen wir faktisch die Macht ausüben, in denen wir sanktionsfähig sind, d. h. wir bestrafen Abweichler und Feinde.«21991 – Vorderste Front. – Revolutionärer Weg konkret: Schafft befreite Zonen!
Diesem Ansatz folgend gab es im gesamten Bundesland ab der zweiten Hälfte der 90er Jahre einen regelrechten Boom an Kameradschaften der selbsternannten »Freien Nationalisten«. Manche dieser Gruppen waren eher kurzlebige Cliquen oder Freundeskreise und beschränkten sich auf lokale Aktivitäten. Vielerorts wurde jedoch regelrechter »Kader-Aufbau« betrieben, der in äußerst wirkungsmächtigen Strukturen vor Ort gipfelte. Wie ein dichtes Netz lassen sich die Namen wie Kameradschaftsbund Mecklenburg, Kameradschaft Wismar, Kameradschaft Bützow, Kameradschaft Güstrow, Kameradschaft Schwerin, Kameradschaftsbund Anklam, Kameradschaftsbund Insel Usedom, Neogermanische Bruderschaft Ueckermünde usw. usf. über das ganze Bundesland legen. Regional gipfelten die Zusammenhänge dann noch in Kameradschaftsnetzwerken wie beispielsweise dem Sozialen und Nationalen Bündnis Pommern (SNBP) oder der Mecklenburgischen Aktionsfront (MAF). Sie waren es, die vor Ort eine Drohkulisse aufbauten und die »National Befreiten Zonen« umsetzen wollten.
Neben den Kameradschaften waren es vor allem die Netzwerke rund um den Rechtsrock die dafür sorgten, dass die Neonaziszene, vor allem im Osten des Bundeslandes immer weiter erstarkte. Auch bundesweit galt sie in der Szene bald als vorbildhaft. Das vorpommersche Klein Bünzow bei Anklam steht exemplarisch für diese Entwicklung. Dabei spielte Blood & Honour eine entscheidende Rolle. Zunächst waren es Neonazis aus der Berliner Sektion dieses internationalen Netzwerks, das die Rechtsrockszene in ganz Europa über Jahrzehnte dominierte, die vor Ort beim Strukturaufbau halfen. Eine örtliche Kneipe stand regelmäßig für Konzerte zur Verfügung, zu der bald auch Rechte aus vielen anderen Bundesländern anreisten. Vor allem aber entwickelte sich vor Ort eine äußerst selbstbewusste und immer besser organisierte Szene. Aus ihr entstand 1996 der bis heute existierende und wohl älteste Neonazi-Zusammenhangs im Bundesland, der Kameradschaftsbund Anklam (KBA). Den Stellenwert der Musik für die Gruppe machten die Neonazis in einem Interview selbst deutlich:

»Nachdem die Naziskins damals gemeinsam nach London gereist waren, habe man entschieden, „sich politisch zu binden.“ Kein Wunder, schließlich hatte man nach dem ersten Konzert im Januar 1996 direkt Kontakt zu den härtesten Neonazi-Gruppierungen aus dem In- und Ausland bekommen: Blood & Honour-Deutschland und über die britische Band No Remorse zur militanten Terrorgruppe Combat 18. Deren Motto „Smash the Reds“ galt es nun auch in Anklam und Umgebung umzusetzen. Auch auf die Frage nach den politischen Aktivitäten des KBA wird offen geantwortet: „(…) Als unser Bundesland noch von der CDU regiert wurde organisierten wir regelmäßig Konzerte, Liederabende, Partys und Geburtstagsfeiern in Klein Bünzow und anderswo. Des weiteren organisierten wir Klebeaktionen, Sonnenwendfeiern, Gedenkmärsche und Kranzniederlegungen.“«22002 – argumente.netzwerk antirassistischer bildung e.v. – …in der mitte angekommen

Der Konzertort in Klein Bünzow konnte stillgelegt werden, doch keine vier Kilometer weiter im kleinen Örtchen Salchow exisiert bis heute der Treffpunkt des Kameradschaftsbunds Anklam.
Blood&Honour etablierte sich jedoch nicht nur im Osten des Landes, sondern auch im restlichen Bundesland. In Rostock konnten Neonazis des »Chapters Mecklenburg« regelmäßig einen Jugendclub nutzen, in dem sie jahrelang den Ton angaben. Dort organisierten sie Konzerte und Kameradschaftsabende, ihr Bands hatten eigene Proberäume. Auch ein zweites internationales Netzwerk aus Naziskinheadbewegung: die Hammerskin-Nation (HSN) etablierte sich im Bundesland und ist bis heute in Orten wie dem Dorf Jamel in Westmecklenburg präsent.
Im Jahr 2000 wurde Blood&Honour verboten, doch vor Ort änderte dies kaum etwas. Die Konzerte und die Protagonist:innen blieben. Ihr Vorgehen wurde auch ohne die offiziell gelabelte Dachstruktur immer planvoller und langfristig angelegt. Bands aus Mecklenburg-Vorpommern sind bis heute aktiv und spielen auf Blood&Honour-Events im Ausland. Die Szene brachte Versände für Tonträger, Neonazi-Kleidung und andere Devotionalien hervor – zwischenzeitlich mit Vertrieb in eigenen Ladengeschäften. Diese dienten als Treffpunkte für die örtliche Szene, waren somit auch gleichzeitig Gefahrenort für vermeintliche politische Gegner:innen. Blood & Honour ist auch die Struktur hinter den Terrorist:innen des NSU-Netzwerkes. Dessen Verbindungen nach Mecklenburg-Vorpommern wurden von journalistischen und Antifaschistischen Initiativen immer wieder betont. Wie selbstbewusst und offen eine regionale Neonaziszene mit Verbindungen zu einem Terrornetzwerk umging, macht einmal mehr deutlich, dass sie auch in den frühen 2000er Jahren behördliche Repression ganz offensichtlich nicht fürchteten .So erschien schon 2002 in dem rechten Fanzine «Der Weisse Wolf” eine Grußbotschaft an den NSU. Erst im Jahr 2022 wurde außerdem öffentlich bekannt, dass die Polizei 2004 im Szenetreff in Salchow Schilder und Plakate mit Verweisen zum NSU vorfand. Ernsthafte Konsequenzen hatte dies für die beteiligten Neonazikader in keinem der beiden Fälle.
Als Mittel, einen politischen Geltungsanspruch jenseits der eigenen Treffpunkte geltend zu machen, dienten der Szene wiederkehrende Aufmärsche in den größeren Städten. Diese waren zum einen eine Provokation und Kraftprobe mit vermeintlichen politischen Gegner:innen, die dort zumeist stärker organisiert waren. Zum anderen war es aber auch der Versuch, Sympathisant:innen vor Ort zu stärken und politische Akzente zu setzen. In den frühen 2000 Jahren erprobte die Szene dabei regelrechte Kampagnen, als sie zum Beispiel gegen die Wehrmachtsausstellung in Peenemünde mobilisierte. Gegen Unterkünfte für Geflüchtete versuchten die Kader mit der Mimikry von Bürgerinitativen unter dem Motto „Schöner und sicherer wohnen in …“ Stimmung zu machen.


Die enorme Präsenz der Neonazis und ihrer Propaganda leistete ihren Beitrag für Nachahmer:innen und Sympathisant:innen, wie sie sich auch unter den Täter:innen der hier dargestellten Fälle finden. Die jugendlichen Mörder von Eckard Rütz, waren zum Teil noch im Kindesalter in rechten Cliquen unterwegs, ihre Zimmer voller Nazipropaganda – einer von ihnen war kurzzeitig sogar Mitglied der NPD.
Rechte Parteien spielten bis dahin stets eine untergeordnete oder nur regionale Rolle. Nach der Schlappe der NPD bei den Landtagswahlen im Jahr 1998 unter dem damaligen Landesvorsitzenden und mutmaßlichen späteren NSU-Unterstützers Hans Günter Eisenecker, wandte sich die Szene erneut dem Aufbau und der Weiterentwicklung eigener, autonomer Strukturen zu. „Unsere Bewegung braucht keine Parteien“ hieß es auf Aufmärschen der Kameradschaftsszene.

Zeitgleich mit den politischen Kampagnen betrieb die Szene gezielten Kaderaufbau und setzte auf weitere Verankerung in der Bevölkerung. Sie organisierte Müllsammel-Aktionen, Wanderungen, Fußballturniere, Tanzveranstaltungen oder Schauspielaufführungen. Gleichzeitig betrieb sie in sogenannten »Kulturkreisen« und dem »Heimatbund Pommern« völkische Brauchtumspflege und trat wiederholt bei Dorf- und Stadtfesten auf.
Eher nach innen gerichtet waren dagegen die Aktivitäten der »Heimattreuen Deutschen Jugend« (HDJ). Diese bundesweite Organisation, die vor allem auf völkische Schulung von Kindern und Jugendlichen setzte, baute ihre Aktivitäten im Bundesland Mitte der 2000er Jahre immer stärker aus. Zahlreiche Kader vor Ort boten die notwendige Infrastruktur, die dünne Besiedlung und eine weit verbreitete Kultur des Wegschauens machten den Nordosten attraktiv für die Durchführung von Lagern des bundesweit aktiven Vereins, der im Jahr 2009 wegen des Versuchs der »Heranbildung einer neonationalsozialistischen »Elite«« und »ideologische[r] (…) Einflussnahme auf Kinder und Jugendliche durch Verbreitung völkischer, rassistischer, nationalistischer und nationalsozialistischer Ansichten im Rahmen vorgeblich unpolitischer Freizeitangebote« verboten wurde.
Das erfolgreiche Agieren der immer besser organisierten Neonaziszene, die abseits der größeren Städten kaum auf ernsthaften gesellschaftlichen Widerstand stieß und sich stattdessen gerade im Osten des Bundeslandes immer stärker in der sogenannten Mitte der Gesellschaft etablieren konnte, sorgte auch dafür, dass auch Kader und Strategen aus anderen Bundesländern hier ein erfolgversprechendes Wirkungsfeld für sich entdeckten. Vor allem ab 2000 zogen viele von ihnen nach Mecklenburg-Vorpommern. NPD Funktionäre zog es vor allem in den damaligen Landkreis Ludwigslust, völkische Siedler in die Landesmitte und Kameradschaftskader erneut nach Vorpommern. Im bundesweit bekannten Dorf Jamel scharten sich zahlreiche Kader um einen Aktivisten der Hammerskin-Nation.22019 – Röpke/Speit – Völkische Landnahme

Von der Bewegung zur Partei

Dieser Zuzug kam auch der »Nationaldemokratischen Partei Deutschlands« (NPD) in Mecklenburg-Vorpommern zu Gute. Ihr fehlten bis dahin nicht nur Mitglieder, sondern vor allem Führungskader. Diejenigen, die für den Wahlerfolg der Partei im Jahr 2006 verantwortlich zeichneten, waren entweder wenige Jahre zuvor gezielt ins Bundesland gezogen oder in den gut organisierten Kameradschaften aktiv, erneut vor allem jenen aus dem Osten des Landes. Gerade sie waren es, die die Partei enorm stärkten. Denn sie brachten nicht nur Vernetzung und Mobilisierungsfähigkeit mit, sondern eine Akzeptanz in der Bevölkerung ihrer Städte und Dörfer, das Ergebnis einer jahrelangen Graswurzelarbeit. Folgerichtig wurden viele von ihnen, obwohl oft erst wenige Monate Parteimitglied, mit Posten oder aussichtsreichen Listenplätzen für die anstehende Landtagswahl belohnt. Nach Sachsen war Mecklenburg-Vorpommern dann das zweite Bundesland, in dem die NPD in einen Landtag einzog. Dies veränderte nicht nur die gesellschaftliche Wahrnehmung und Thematisierung neonazistischer Organisierung und mit dieser immer auch verbundener Gewalt. Es änderte vor allem die Szene im Bundesland, die sich in den Folgejahren bis auf wenige Ausnahmen um das neu entstandene politische Machtzentrum scharte, die NPD Landtagsfraktion. Etliche Kader fanden dort und später auch bei den Kreistagsfraktionen der Partei eine Anstellung. Die Landtagsdiäten und die Mittel aus der Parteienförderung waren für die rechte Szene ein regelrechtes Konjunkturprogramm. Etliche Neonazis waren auf einmal gut bezahlte Vollzeitaktivisten, die innerhalb kürzester Zeit zahlreiche neue Treffpunkte schafften, oft als ganz offizielle Wahlkreisbüros. Doch nicht nur das. Es boten sich ihnen völlig neue Mittel, Politik zu machen. Land- und Kreistage boten Podien für neonazistische Propaganda, der Status aus gewählte Partei bot weitestgehende Sicherheit vor staatlicher Repression. Aber vor allem konnten ehemalige Kameradschaftler nun als vermeintlich seriöse Volksvertreter oder deren Mitarbeiter auftreten.
Sie mussten sich dabei rhetorisch nicht mal besonders mäßigen, vor allem nicht in den Regionen, in denen sie schon zuvor anerkannt und akzeptiert waren. Inhaltlich gab es sowieso kaum Unterschiede zwischen den Positionen der Partei und denen der vormals »freien Kräfte«. So erlebte die rechte Szene im Bundesland ab 2006 erneut eine politische Blüte. Die NPD verdoppelte ihre Mitgliederzahl innerhalb von einem Jahr, zog nicht nur in alle Kreistage ein, sondern schaffte 2011 sogar den Wiedereinzug in den Landtag. Bei all diesen Wahlerfolgen zeigte sich erneut, wo die Szene seit Anfang der 90er Jahre besonders erfolgreich war. Neben einigen Städten und Regionen im Landkreis Ludwigslust, in denen sich die Anfang der 2000er zugezogenen NPD Kader innerhalb weniger Jahre erfolgreich etablieren konnten, waren es erneut die Regionen im Osten des Bundeslandes, in denen die Partei regelmäßig zweistellige Ergebnisse erzielte.
Neben dem erfolgreichen »Kampf um die Parlamente« arbeitete die erstarkte Neonaziszene Mecklenburg-Vorpommerns natürlich auch weiterhin an den anderen beiden Säulen des offensichtlich erfolgreichen Politikmodells der NPD aus den späten 90er Jahren. Der »Kampf um die Straße« bedeutete nichts anderes als eine Fortsetzung des Konzeptes der »National Befreiten Zonen« unter anderen Vorzeichen. Regelmäßige Aufmärsche und Kundgebungen fanden weiterhin vorzugsweise da statt, wo der politische Gegner stark war, nun allerdings als offizielle Parteiveranstaltungen. Um diese Auftritte abzusichern und nach außen auch disziplinierter erscheinen zu lassen, baute die NPD ihren eigenen Ordnungsdienst auf. Gut geschulte und ausgestattete Neonazis übernahmen fortan nicht selten hoheitliche Aufgaben bei Aufmärschen, mit Duldung der anwesenden Polizei, die diese eigentlich auszuüben hatte. Nur folgerichtig, dass die Ordner die ihnen zugestandene Macht konsequent ausnutzten, in dem sie immer wieder gegen Journalist:innen und Gegendemonstrierende vorgingen. Aber auch im Umfeld von Aufmärschen und Infoständen kam es regelmäßig zu Angriffen. Die Umgebung vieler der neu geschaffenen »Wahlkreisbüros« galt all jenen als Angstraum, die als politische Gegner:innen ausgemacht wurden.
Im »Kampf um die Köpfe« entwickelten die Kader eine gezielte ideologische Unterfütterung ihrer Hegemonialansprüche und bauten zielgerichtete Propaganda-Strukturen in Form von eigenen Verlagen, die flächendeckend regionale Flugblätter, Zeitschriften bis hin zu ganzen Monographien produzierten. Bereits bestehende Szeneläden wurden mit Geldern der NPD Landtagsfraktion alimentiert, andere wurden gleich direkt in »Wahlkreisbüros« untergebracht.
Schon 2012 konstatierten Expert:innen: »Mit Stammtischen und Unzufriedenen ist das weniger erklärt. Wir haben einfach die letzten zehn Jahre einen kontinuierlichen Strukturaufbau von rechtsextremen Organisationen, neofaschistischen Organisationen und Parteistrukturen […] gehabt. Und die konnten dort unbehelligt, ihre Bildungsarbeit und ihre Strukturarbeit machen. Man hat dem ganzen Problem nie eine Aufmerksamkeit geschenkt.«2Hoffmann, G. in: 2000 – RAA – Rechts oben.

Und zurück zur Bewegung?

Mit dem Ausscheiden der NPD aus dem Landtag 2016 und dem Auftauchen neuer rechten Akteur:innen wie der AfD, mitsamt einer erneuten Diskursverschiebung nach rechts, scheinen Neonazis für manche Verantwortungsträger:innen verschwunden zu sein. Doch viel der beschriebenen Netzwerke existieren noch heute, viele der Kader von damals sind noch immer aktive Neonazis. Wenn sie mit ihrem Wirken in den Hintergrund getreten sind, so kann auch dies als strategischer Entschluss gewertet werden. Zudem ist es mancherorts ein aggressives und offenes Auftreten schlichtweg nicht mehr nötig. Die Taten von damals wirken nach und die aufgebauten Netzwerke bieten teilweise Autarkie. Doch es bleibt die Tatsache: die Mörder und Totschläger der durch rechte Gewalt Getöteten waren oder sind ihre Weggefährten oder eiferten ihnen nach.
Der Kameradschaftsbund Anklam beispielsweise feierte im Jahr 2021 sein 25-jähriges Bestehen. Er ist für Neonazis der gesamten Region rund um die Hansestadt die Referenz und auch das Dach für alle nachfolgenden Unterorganisationen, wie Ableger aus dem Anklamer Umland nachfolgender Generationen junger Neonazis. Diese Strukturen sind insofern nachhaltig, weil sie zum einen immer noch existieren. Wenn nicht unter den Original-Labels, dann zumindest hinsichtlich des Personals. Zum anderen, weil sie wie kaum andere Akteur:innen inhaltlich und politisch Einfluss genommen haben, Diskurse besetzen und, wie sich mit der rassistischen Mobilisierungswelle im Jahr 2015 zeigte, das Feld längst anderen, die ihr Vokabular und ihre Argumentationen übernommen haben, überlassen können.
Hinzu kommt das kollektive Gedächtnis, das die Gewalt und das Bedrohungspotential bis heute in vielen Städten und Regionen präsent hält und eine politische Auseinandersetzung mit den Stichwortgeber:innen hinter den Angriffen erheblich erschwert. Es sind die Geschichten, die der Journalist Christian Bangel unter dem Schlagwort #baseballschlägerjahre gesammelt hat, die noch immer nachwirken und in die sich auch die meisten der auf diesen Seiten geschilderten Taten einordnen lassen.
Ein klares politisches Durchgreifen gegen die Täter:innenszene blieb oftmals aus, während eine marginalisierte Zivilgesellschaft vor Ort zwischen Nestbeschmutzung und Feigenblatt agieren musste und teilweise bis heute tun muss. So verwundert die Verweigerung der Anerkennung tödlicher rechter Gewalt und der Unwille politischer Aufklärung wie beispielsweise zu Versäumnissen in Bezug auf die Vernetzung der rechten Szene im Bundesland mit dem NSU eigentlich kaum noch.
Und während selbst die am härtesten verurteilten Täter von damals zu größten Teilen die Gefängnisse wieder verlassen haben, leben ihre Stichwortgeber:innen und Kameraden noch immer nahezu unbehelligt zwischen Ostsee und Seenplatte.

footer.php