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TODESOPFER RECHTER GEWALT IN M-V

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Nach unten treten – Sozialdarwinismus und tödliche rechte Gewalt

Die auf dieser Seite vorgestellten Fälle werfen bei der Betrachtung ihrer Zusammenhänge drängende Fragen auf:
Wie kam es in den frühen 2000er Jahren in Mecklenburg-Vorpommern zur massiven Häufung von brutalsten Angriffen auf wohnungslosen oder suchtkranke Menschen durch zumeist junge Rechte?
Welchem Bild entsprachen die Opfer in den Augen der Täter:innen und was führte zu den einzelnen Tatentschlüssen?
Gibt es in diesen Taten das verbindende Element der „Unwertigkeit“ von Menschen?
Wodurch fühlen sich jugendliche rechte Täter:innen legitimiert, einen Menschen zu töten und ihre Taten später mit dessen angeblicher Unwertigkeit zu rechtfertigen?
Welche Rollen spielen die DDR-Sozialisation und die langen Schatten der NS-Zeit im herrschenden Weltbild der Nullerjahre in MV?
Diese Fragen können sicherlich kaum abschließend beantwortet werden. Es wird jedoch eine Annäherung an die Motive und ihre mögliche Entwicklung versucht, um die richtigen Lehren und Schlüsse aus den tödlichen rechten Gewalttaten zu ermöglichen. Die Erklärungsansätze, insbesondere aus der historischen und der psychologischen Perspektive dienen hierbei nicht der Legitimation der Taten oder dem Werben um Verständnis für die Täter:innen, sie ermöglichen einen Blick auf die gesamte komplexe gesellschaftliche Problematik sozialdarwinistischer Gewalt, ohne diese in der Kategorie „rechtsextrem“ zu belassen. Am Ende soll der Blick auf wohnungs- und obdachlose sowie suchtkranke Menschen als unsichtbare Opfergruppe rechter Gewalt gelenkt werden, als auf die Täter:innen und ihre Hintergründe.

Das Motiv der Obdach- und Wohnungslosenfeindlichkeit ist in der Gesellschaft damals wie heute insgesamt weit verbreitet und wenig geächtet

Von 1989 bis 2021 zählte die BAG Wohnungslosenhilfe anhand ihrer systematischen Presse-Auswertungen 2200 Gewalttaten gegen wohnungslose Menschen, davon 267 durch nicht-wohnungslose Täter:innen begangene mit tödlichem Ausgang.
Es ist nach Einschätzung der BAG davon auszugehen, dass diese Zahl nur eine Dunkelziffer ist und solche Taten und ihre Hintergründe nicht in jedem Fall bekannt werden, da der Ermittlungsdruck aufgrund des sozialen Status der Opfer oft begrenzt ist und die Medien nur über spektakuläre Fälle berichten.1vgl. BAG Wohnungslosenhilfe 2021
Die Annahme, dass die Täter:innen aus einem gesellschaftlichen Klima heraus handeln und sich durch allgemein gültige Maximen der neoliberalen Gesellschaft legitimiert fühlen, lässt sich mit Untersuchungen zu allgemein in der Bevölkerung verbreiteten menschenfeindlichen und abwertenden Haltungen gegenüber prekarisierten Menschen begründen.
Unter dem Eindruck einer Verwertungslogik werden Menschen in „Gewinner:innen“ und „Verlierer:innen“ aufgrund eines zugeschriebenen ökonomischen Nutzens eingeteilt. Diese Bewertung ist eng verknüpft mit den Erfolgs-Narrativen moderner westlicher Gesellschaften, die suggerieren, dass jede:r es aus eigener Kraft und mit ausreichend Tüchtigkeit, Willen und Stärke zu ökonomischem und sozialem Erfolg und damit gesellschaftlicher Anerkennung bringen kann. Der Umkehrschluss dieser Logik führt zur Abwertung derer, die es „nicht geschafft haben“ und nun den „Tüchtigen“ zur Last fallen.
Eine etablierte Bezeichnung für dieses Motiv, für die Abwertung von vermeintlich sozial schlechter gestellten Personen, ist der Begriff „Sozialdarwinismus“.
Sozialdarwinismus bezeichnet im allgemeinen Sprachgebrauch die Abwertung von Menschen aufgrund eines zugeschrieben niedrigeren sozialen Status. Diese Zuschreibung betrifft zumeist gesellschaftlich marginalisierte Gruppen, wie wohnungs- oder obdachlose Menschen. Eine weitere Betroffenengruppe sind Menschen mit speziellen Bedürfnissen, wie körperlich oder psychisch kranke Personen, ältere Menschen oder Personen mit Beeinträchtigungen. Synonym zu diesem Begriff werden auch die Bezeichnungen „Sozialchauvinismus“, „Klassismus“, „Nützlichkeitsrassismus“ oder „Aporophobie“ verwendet.2vgl. Teidelbaum 2020, S. 38
Die Abwertung ist deshalb möglich, da der zugeschriebene gesellschaftliche Misserfolg an die Persönlichkeit der:des Betreffenden gekoppelt wird und trotz zahlreicher widersprechender Erkenntnisse nicht auf äußere Umstände zurückgeführt wird.
Sozialdarwinismus hat in Deutschland eine fatale Geschichte, die sich nicht nur durch die NS-Zeit zieht, sondern auch in der DDR-Zeit eine Entsprechung fand.

Der Begriff „Sozialdarwinismus“ hat sich seit seiner Entstehung pseudowissenschaftlich für verschiedene gesellschaftstheoretische Phänomene etabliert, konnte jedoch auf wissenschaftlicher Ebene nie ausreichend bestimmt werden.
Heute glaubt die Mehrheitsgesellschaft glücklicherweise nicht mehr, dass Menschen ausgegrenzt werden müssten, um das Vorankommen einer „Rasse“ zu sichern, wie es seit Beginn des 20ten Jahrhunderts bis über die Zeit des Nationalsozialismus hinaus vorherrschend der Fall war. Stattdessen wird heute eher achtlos oder aus einer kapitalistischen Perspektive der Verwertbarkeit auf die vermeintlichen Verlierer:innen der gesellschaftlichen Evolution geschaut. Über viele Jahrzehnte hinweg wurden Identifikations-Bilder geprägt; vom „Selfmade-man“, von der erfolgreichen Jungunternehmerin oder der Anwältin, die als erste in ihrer Familie promoviert. Diese Geschichten stricken mit an einem gesellschaftlichen Mythos, der verspricht, dass genug Engagement und Willen stets mit gesellschaftlichem Aufstieg, ökonomischer Sicherheit und Statuszuwachs belohnt wird. Das Narrativ wird auch gestützt durch den vermeintlichen Gegenpol: die Verlierer:innen, die es aus persönlichen Defiziten nicht schaffen, ihrer prekären Lage zu entkommen. Diese Figuren dienen im Neoliberalismus der Negatividentifikation, welche die Mehrheit zu mehr produktiver Leistung anspornen soll.
In der „Mitte-Studie“ 2020/2021 stimmten 8,7% der Befragten abwertenden Aussagen über obdachlose Menschen teilweise oder voll zu. Dabei stimmten Befragte aus den neuen Bundesländern den Aussagen doppelt so häufig zu wie Befragte aus den westdeutschen Bundesländern. Die Ablehnung gegenüber langzeitarbeitslosen Personen, denen oftmals Leistungsverweigerung unterstellt wird, ist insgesamt fast 2,5 mal so hoch.
Bei älteren Erhebungen der Studie aus dem Jahr 2002 zeigte sich noch, dass sozialdarwinistische Haltungen eher bei jüngeren Befragten vertreten waren, während heute die Ausprägungen aller Dimensionen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit proportional zum Alter ansteigt.3vgl. Zick/Küpper 2021, S. 193 ff.
Auch von Politiker:innen und Medien wird häufig populistisch ein negatives Bild von sozial benachteiligten Menschen verbreitet und Vorurteile werden bemüht.
In der Folge kommt es insbesondere durch andere prekarisierte Gruppen zu gesellschaftlichen Ausschlusshandlungen bis hin zu scheinbar legitimierter Gewalt. Eine Auswucherung dieser Dynamik ist auch der Vigilantismus (die vermeintliche Herstellung von Ordnung durch Selbstjustiz von Privatpersonen), der bei vielen rechten Morden in Mecklenburg-Vorpommern als Tatmotivation eine Rolle spielte.
Die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB), definiert Sozialdarwinismus als „Abqualifizierung gesellschaftlicher Randgruppen“.Weiterhin wird auf der Webseite der BpB beschrieben, dass diese Haltung in ihrer expliziten Form „[…] in der Regel mit rechtsradikalen Ideologien einher [ginge]“ und dass der deutsche Verfassungsschutz Sozialdarwinismus als „[…] wesentliches ideologisches Element der Neonazi-Szene, neben Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus und Antipluralismus […]“ ansähe.
Die BpB geht hier vom sogenannten historischen biologisch-deterministischen Sozialdarwinsimus (im Sinne vermeintlicher Rassenbiologie und Selektionstheorie) aus, der nur an den (rechten) Rändern einer Gesellschaft vorkomme und damit Kennzeichen extrem rechter Denkmuster sei. Diese Begriffsrezeption blendet die gesamtgesellschaftlichen sozialen Entwicklungen der vergangenen 70 Jahre und die oben beschriebenen marktliberalen Motive wie gesellschaftliche Ordnung durch Ausschluss und Soziale Ungleichheit als Leistungsanreiz aus. Sie ist somit ungeeignet, das Phänomen Sozialdarwinismus in der modernen Gesellschaft angemessen zu beschreiben und einzuordnen. Die heutige Tragweite sozialdarwinistischer Ideen ist im Zusammenhang ihres gesamten historischen Wandels zu sehen.

Die sozialdarwinistisch motivierte Gewalt gegen Obdachlose und Suchtkranke hat auch eine institutionelle Dimension

Diese generelle Haltung kennzeichnet natürlich zumindest in dem selben Maße, wie sie in der Bevölkerung verbreitet ist, auch Mitarbeiter:innen von Behörden und Institutionen. Obdach- und wohnungslose sowie suchtkranke Menschen sehen sich in der Folge auch mit einer institutionellen Form von Ausgrenzung, Abwertung und Gewalt konfrontiert. Orte dieser Diskriminierungen können sowohl Behörden, das Arbeitsamt, die Krankenkasse, das Krankenhaus und der Gerichtssaal als auch die Polizeistation sein. Bekannt wurden beispielsweise verschiedene Fälle der Verschleppung von Obdachlosen durch die Polizei, in denen die Opfer außerhalb der Stadt auf freiem Feld ausgesetzt wurden. Eine weitere Form der spezifischen institutionellen Gewalt ist die unterlassene Hilfeleistung durch Beamt:innen, die auch in einigen Fällen zum Tod der obdachlosen Opfer führte.4vgl. Teidelbaum 2013, S. 46
Einen Tötungsfall, der beispielhaft für institutionelle Gewalt gegen obdachlose Menschen steht, gab es in Mecklenburg-Vorpommern im Dezember 2002: Zwei Polizisten verbrachten den betrunkenen Wolfgang Hühr aus einem Supermarkt in Stralsund und setzen ihn bei klirrender Kälte außerhalb der Stadt auf freiem Feld aus. Der Mann starb wenige Stunden nach der Aussetzung an „Alkoholvergiftung in Kombination mit Unterkühlung“, so die Gerichtsmedizin . Die Beamten versuchten im Nachgang, ihre Tat zu rechtfertigen: Die „Ortsverbringung“ sei ein übliches Instrument der Polizeiarbeit, um sogenannte „Störer“ nach Platzverweisen zu entfernen. Wolfgang Hühr hatte laut Zeugenaussagen weder gestört, noch hatte er einen Platzverweis erhalten. Das Innenministerium sah sich genötigt, im Nachgang die Praxis der „Verbringung“ durch Polizist :innen per Dienstanweisung zu untersagen: diese sei nicht vom Polizeigesetz gedeckt. Im Zuge der Gerichtsverhandlung zu Wolfgang Hührs Tod flammte die Debatte über die sogenannte Ortsverbringung wieder auf, nachdem der Innenminister bekanntgab, weitere Fälle dieser Praxis hätte es in Mecklenburg-Vorpommern nicht gegeben und ihm Polizeibeamt:innen widersprachen. Wie sehr sich die „private“ Haltung der Polizeibeamten auf ihre dienstliche Tätigkeit auswirkte, wurde außerdem während des Prozesses deutlich. So soll der jüngere Täter noch während der Fahrt gesagt haben, er könne Alkoholiker nicht leiden, da sie ihn an seinen Vater erinnern. Der ältere Beamte bezeichnete das Opfer im Gespräch mit einem Freund und Kollegen als „Drecksfresse“, um die es nicht schade sei.“Wäre er ein normaler Bürger, hätte es mir Leid getan“.

Die Konsequenz solcher Haltungen sind dann nicht selten auch die juristische und gesellschaftliche Bewertung sozialdarwinistischer Taten. Wie auch in den hier dokumentierten Fällen ist die Sicht auf die Gewaltdelikte meist sehr täter:innenzentriert, oft wird eine rechte Tatmotivation oder Gesinnung der Tatverdächtigen bereits bei den Ermittlungen und später im Prozess verkannt oder geleugnet. Diese problematische Deutung seitens der Ermittlungsbehörden und der Justiz findet sich auch bei rassistischen und antisemitischen Taten. Solange die Täter nicht polizeibekannt einer rechten ebenfalls polizeibekannten Gruppierung angehören oder sich während der Tat oder im Nachgang einschlägig äußern, wird die Tatmotivation sogar oft als „Langeweile“, „Frustration“ oder „Lust zu Schlagen“ verkannt. Dass hinter diesen Taten ein spezifisches Bild der Unwertigkeit von Menschen steht, kommt somit weder in den Urteilen noch im gesellschaftlichen Diskurs zum Tragen.

Die Haltung der Rechten Szene zu obdachlosen Menschen variiert zwischen Instrumentalisierung und Abwertung

Während mit Parolen wie „Wohnraum und Arbeit zuerst für Deutsche“ einerseits Fürsorglichkeit für Angehörige der eigenen konstruierten Nationalität (denn damit sind keinesfalls Deutsche im Sinne des Grundgesetzes gemeint sondern Menschen, die nach einem diffusen rassistischen Volksbegriff dem „deutschen Volk“ zugeordnet werden) demonstriert wird, hat die Rechte eine lange Tradition der Abwertung von „Asozialen“.
Gerade im Kampf gegen vermeintliche „Wirtschaftsflüchtlinge“ wird der:die deutsche Obdachlose gerne auf der Ebene von rechten Parteien und Organisationen als Propagandaobjekt missbraucht und als „guter und unterstützenswerter gefallener Volksgenosse“ dem Bild der „gierigen ausländischen Banden“ gegenübergestellt. Diese Rhetorik hat eine nach innen stärkende Wirkung auf die Gruppe, die sich als „deutsch“ definiert und dient damit gleichzeitig der Abgrenzung gegen außen. Weiterhin wird das Thema Obdachlosigkeit auch gern genutzt, um das vermeintliche Establishment und die aktuelle Regierung ihrer Fehlbarkeit zu überführen.
Da diese Haltung – bis auf einige propagandistisch ausgeschlachtete Spendenaktionen für „deutsche Obdachlose“ – überwiegend auf der theoretischen Ebene verbleibt und die Lösungskonzepte der politischen Akteur:innen (bspw. Einführung von Arbeitsdiensten) wieder einen deutlich autoritären Charakter haben, zeigt sich die tiefer verwurzelte Ablehnung der „Asozialen“ eher an der Basis des rechten Spektrums.5vgl. Teidelbaum 2013, S. 70ff.

Während der NS-Zeit wurden wohnungs- und obdachlose Menschen als „Asoziale“ wie andere soziale Randgruppen systematisch verfolgt. Die Verfolgung Abweichender fußte auf der rassistisch konstruierten Ideologie der „gesunden Volksgemeinschaft“.

Diese gespaltene Haltung treibt zum Teil absurde Blüten. Trotzdem allen sozialdarwinistisch motivierten Morden zumindest ein rechtes menschenverachtendes Motiv zugrunde liegt, versuchen sich Rechte und Neonazis teilweise von den Taten zu distanzieren. Auf Bekanntwerden von Verbindungen der Täter:innen in rechte Gruppierungen folgt oft ein Verleugnen der Täter:innen als Angehörige der eigenen Organisation oder ein Verschieben der Tatmotivation von der ideologischen auf eine individuelle Ebene.
Im Fall von Eckard Rütz versuchten Neonazis sein Gedenken zu benutzen, in dem sie einen Kranz an seinem Gedenkstein niederlegten und die Zugehörigkeit des Haupttäters zur NPD herunterspielten.6vgl. Teidelbaum 2013, S. 72 Die rechte Internetseite stoertebeker.net nannte die Haftstrafen für die Wismarer Mörder von Jürgen Seifert im Jahr 2000 „hart aber gerecht“, bezeichnete die Berichterstattung zu deren Szenezugehörigkeit jedoch als Kampagne. Drei Jahre zuvor interviewte ein Team von Spiegel-TV eine Gruppe junger Neonazis in Anklam zu dem Mord an Horst Meyer. Auch sie leugnen die Szene-Zugehörigkeit der Täter und geben vor, die Tat zu verurteilen.
Dem gegenüber stehen die vielfachen Übergriffe auf wohnungslose Personen, Obdachlosenunterkünfte oder alkoholkranke Menschen, die sich schon seit Mitte der 90er immer wieder aus der rechten Szene heraus ereigneten.

Die Standortbedingungen für die sozialdarwinistisch motivierten Taten in Mecklenburg-Vorpommern sind historisch durch die Sozialisation der Täter:innen in der DDR besonders geprägt

In Deutschland fungierte die NS-Lehre von der Eugenik, der Unwertigkeit und der Rassenbiologie als Katalysator für die Verachtung wohnungs-/ obdachloser und kranker Menschen und baute ideologisch zugleich Hemmschwellen ab, dieser Verachtung mittels physischer Misshandlung Ausdruck zu verleihen.
Bereits im späten 19. Jahrhundert hatten sich, aufbauend auf den Abhandlungen Darwins und anderer, Vorstellungen von „Rassenhygiene“ entwickelt, anhand derer regulierend auf den qualitativen Fortbestand der eigenen „Rasse“ eingewirkt werden sollte. Man ging davon aus, dass der zivilisatorische Fortschritt, der besonders auf medizinischer Ebene immense Sprünge machte, die „natürliche Auslese“ der „nicht leistungsfähigen Schwachen“ aushebelte. Obwohl diese Theorien auf einer Fehlinterpretation der darwinschen Lehren und der Mendelschen Gesetze basierten, stieß man damit in elitären Führungsschichten der deutschen Gesellschaft auf reges Interesse.7vgl. Hoff/Weber 2002, S. 1017 Auch in sozialdemokratischen Kreisen war die Idee von der Schaffung eines „neuen Menschen“ durch Geburtensteuerung durchaus populär.8vgl. Lulay 2021
Ursprünglich waren die meisten Formen des Sozialdarwinismus individualistische und optimistische Konstrukte, die den Kampf um Dasein und Fortbestand, die diesen zwar als brutal beschrieben, ihn jedoch im Dienste von Fortschritt und Höherentwicklung verorteten und ihm Platz für Altruismus und Moral zusprachen. In Theorien von Eugenik und Rassenhygiene fand dieser Kampf nicht mehr zwischen Individuen sondern zwischen konstruierten „Rassen“ statt und wurde somit kollektivistisch umgedeutet und instrumentalisiert.9vgl. Lenzen 2015
Ihre totale Entsprechung fanden diese Theorien schließlich in der Umsetzung der NS-Ideologie. Über den Mythos der vererblichen Unwertigkeit und die soziale Ausgrenzung als „arbeitsscheu“ oder „asozial“ markierter Personen wurden bereits vor 1933 verschiedene Phänomene von Armut, wie „Landstreicherei“ und „Bettelei“ kriminalisiert und mit polizeilichen und wohlfahrtspflegerischen Instrumenten versucht, kostengünstig beizukommen. Mittel der Rassenhygiene und damit verbundenen „Aussonderung aus dem Volkskörper“ waren hierbei soziale Stigmatisierung, fürsorgerische Disziplinierung und Repression, Sterilisation und Verschleppung in Arbeitslager und Euthanasie-Morde in „Heilanstalten“ und Konzentrationslagern.10vgl. Ayaß 1995, S. 219

Die programmatische Umdeutung von abweichendem Verhalten als „Asozialität“ endete nicht mit dem Zerfall der Naziherrschaft. Vielmehr fand die ihr zugrundeliegende Ideologie von der unterschiedlichen Wertigkeit der Menschen nur eine Umdeutung. Auf dem Gebiet der damaligen DDR galt ab 1968 ein Strafgesetzbuch, in dem mit dem Paragraph 249 „Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten“ die wohl zeitgenössischere Umsetzung der eugenischen Haltung zu abweichendem Verhalten.

Wer das gesellschaftliche Zusammenleben der Bürger oder die öffentliche Ordnung dadurch gefährdet, daß er sich aus Arbeitsscheu einer geregelten Arbeit hartnäckig entzieht, obwohl er arbeitsfähig ist, oder wer der Prostitution nachgeht oder wer sich auf ändere unlautere Weise Mittel zum Unterhalt verschafft, wird mit Verurteilung auf Bewährung oder mit Haftstrafe, Arbeitserziehung oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft. Zusätzlich kann auf Aufenthaltsbeschränkung und auf staatliche Kontroll- und Erziehungsaufsicht erkannt werden.11§249 Abs.1 StGB-DDR i.d.F.v. 1.6.1969

In der DDR wurde diese Gesetzgebung damit begründet, dass „Asozialität“ als Isolation von der und damit Gegenbild zur sozialistischen Gesellschaft diese direkt gefährde. Von 1969 bis zum Zerfall der DDR wurden nach diesem Paragraphen (und seiner geänderten Fassung ab 1977) 160 142 Fälle verfolgt. Jährlich waren das mehr als doppelt so viele Fälle, wie bei dem berühmten §213, der die Verfolgung von „Republikflucht“ begründete. Auch in der Gesamtheit der verfolgten Straftaten kam dem §249 eine hohe Stellung zu: mehr als jedes zehnte Delikt wurde auf seiner Grundlage verfolgt, 1989 waren in der DDR ein Viertel der Inhaftierten nach ihm verurteilt. Diese Verteilungen weisen auf die Priorität hin, die der Verfolgung von „Asozialen“ durch das Regime der DDR beigemessen wurde.12vgl. Neumann 2019, S.
Die starke „Verrechtlichung“13Zeng 2000, S.34 des Umgangs mit den nicht angepassten Lebensweisen der politisch als „asozial“ Diffamierten hatte neben ihrer ordnungspolitischen natürlich auch eine gesellschaftliche Dimension. Die Ausgrenzung „arbeitsscheuer Parasiten“, die sich am sozialistischen Gesamtvermögen auf Kosten der Gemeinschaft bereichern wollen, war ein tief verankertes Narrativ in der Bevölkerung der DDR und setzte sich auch über ihren Zerfall hinaus fort. Hier kann angenommen werden, dass auch in den 00er Jahren nicht nur die als politisch rechts verorteten Täter:innen der sozialdarwinistisch begründeten Gewalttaten ihre Motivation auf dieser historisch angelegten gruppenbezogenen Menschenverachtung begründeten, sondern das auch in der restlichen Bevölkerung. Das gilt gleichermaßen für die juristischen Organe, die mit der Aufarbeitung der Morde beauftragt waren und deren Protagonist:innen zumeist nicht in der DDR sozialisiert wurden – woran sich die tiefe historische Verwurzelung sozialdarwinistischer Motive abermals verdeutlicht.
Auf eine besonders erschütternde Weise zeigt sich die gesellschaftliche Haltung gegenüber den „Abweichler:innen“ auch in dem Kommentar einer Zeitzeugin eines der Morde: „Ach, um den ists nicht schade.“ Wortgleich hatte auch der Polizist, der den obdachlosen Wolfgang Hühr nachts in der Kälte aussetzte, seine Tat gegenüber einem Freund gerechtfertigt.

Wohnungs- und obdachlose Menschen sind eine unsichtbare Opfergruppe rechter Gewalt

Wohnungs- und obdachlose Menschen sind per se in besonderem Maße von vermeintlich sozialdarwinistisch motiviertem Ausschluss und damit verbunden auch von Gewalt betroffen, da sie deutlich als Angehörige einer gesellschaftlich als minderwertig angesehenen Gruppe erkennbar sind. Weiterhin gehören sie oftmals gleich mehreren der auszuschließenden Personenkreise an, haben etwa Erkrankungen und Suchtproblematiken, sind arm, arbeitslos oder Sexarbeiter:innen, werden kriminalisiert oder begehen Straftaten. Zugleich fehlen ihnen schützende Faktoren, wie intakte soziale Beziehungen, eine politische Lobby, tragfähige Netzwerke oder die Möglichkeit, solche aufzubauen und privater Wohnraum als Schutz- und Rückzugsort.14vgl. Simon 2021, S. 939
Das Anzeigeverhalten von Opfern rechter Gewalt bewegt sich generell laut Studien auf europäischer Ebene konstant in einem in einem niedrigen Bereich zwischen 20 und 30%. Aufgeschlüsselt nach Opfergruppen differieren die Zahlen nochmals deutlich. Die Gründe, sich gegen eine Anzeige bei der Polizei zu entscheiden, sind hierbei unterschiedlich. Fast die Hälfte der Betroffenen geht davon aus, dass eine Anzeige nichts an ihrer Situation verbessern würde, etwa 6% hielten den Angriff für nicht schwerwiegend genug.15European Union Agency for Fundamental Rights (FRA): EU-MIDIS II, S.66 Diese Zahlen zeigen den hohen Grad der Normalisierung vorurteilsbasierter Gewalt. Bei der Betroffenengruppe, die aus sozialdarwinistischen Motiven angegriffen wird, kann von einer noch deutlich geringeren Zahl der Anzeigen ausgegangen werden, jedoch finden sich hier keine verlässlichen Erhebungen. Gründe für den Verzicht auf eine Strafanzeige oder eine Meldung bei der Polizei sind vermutlich auch hier vielfältig: eigene Erfahrungen mit und/oder negative Erwartungen an Ermittlungsbehörden und Justiz, das persönliche Erleben von Gewalt als Normalität oder Angst vor Rache der Täter:innen.16vgl. Teidelbaum 2013, S. 46
Das Dunkelfeld rechter Gewalt gegen wohnungs-/obdachlose oder suchtkranke Menschen dürfte somit auch heute sehr groß sein. Der Blick auf die bisher bekannt gewordenen Fälle lässt vermuten, dass weitere Taten unter „Jugendgewalt“ oder „Raub“ in der Statistik verborgen bleiben und macht deutlich, dass nach wie vor viele Leerstellen hinsichtlich Aufarbeitung und Betroffenenperspektive existieren.

Literatur
Literatur

Ayaß, Wolfgang (1995): „Asoziale“ im Nationalsozialismus. Stuttgart: Klett-Cotta.

Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Wohnungslosenhilfe (2021): Gewalt gegen und unter Wohnungslosen in Deutschland, seit 1989. Eigene Erhebung, Stand: 28.07.2021. https://www.bagw.de/fileadmin/bagw/media/Doc/STA/STA_21_Gewalt_1989-2021.pdf [Abruf: 07.12.2021]

European Union Agency for Fundamental Rights (FRA) (2017): Second European Union Minorities and Discrimination Survey (EU-MIDIS II), 2016. Vienna, Austria. DOI: 10.4232/1.13514

Hoff, Paul / Weber, M. (2002): Sozialdarwinismus und die Psychiatrie im Nationalsozialismus. In: Nervenarzt 73, 1017–1018. https://doi.org/10.1007/s00115-002-1442-9 [Abruf: 21.07.2021]

Lenzen, Manuela (2015): Was ist Sozialdarwinismus? In: Internetauftritt Bundeszentrale für Politische Bildung. https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/214188/was-ist-sozialdarwinismus [Stand 23.06.2021]

Lulay, Birgit (2021): Für den gesunden Arbeiterstaat. In: Internetauftritt Jungle World.
https://jungle.world/artikel/2021/51/fuer-den-gesunden-arbeiterstaat [Stand 18.02.2021]

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Schestak-Haase, Franziska/Adorf, Matthias (2020): Tödliche Kontinuität(en) – rechte Gewalt und sekundäre Viktimisierung durch Justiz, Polizei und Öffentlichkeit im Kontext rechter Todesfälle in Thüringen seit 1990 [DOI: 10.19222/202007/12] In: IDZ-Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (Hrsg.): Wissen schafft Demokratie 07/2020 – Kontinuitäten. Berlin: Amadeu Antonio Stiftung.

Simon, Titus (2021): Vom steten Ringen gegenläufger Tendenzen: Rechtsverwirklichung versus Exklusion in der Wohnungslosenhilfe. In: Anhorn, Roland/Stehr, Johannes (Hrsg.): Handbuch Soziale Ausschließung und Soziale Arbeit. (Perspektiven kritischer Sozialer Arbeit Bd. 26) Wiesbaden: Springer VS, S. 939-952

Teidelbaum, Lucius (2020): Sozialdarwinismus: Die Abwertung von (vermeintlich) Schwächeren. In: wohnungslos 2/20 Aktuelles aus Theorie und Praxis zur Armut und Wohnungslosigkeit. S. 38-40. Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (Hrsg.). Bielefeld, Berlin : Verlag BAG-W, Berlin.

Teidelbaum, Lucius (2013): Obdachlosenhass und Sozialdarwinismus. Münster: Unrast-Verlag.

Zeng, Matthias (2000): „Asoziale“ in der DDR : Transformationen einer moralischen Kategorie. In: Erfurter Sozialwissenschaftliche Reihe, Bd. II. Münster: LIT-Verlag.

Andreas Zick / Beate Küpper (2021): Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratie-gefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21. Franziska Schröter (Hgin. für die Friedrich-Ebert-Stiftung), Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2021.

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